Streit über die Artenvielfalt spitzt sich zu

Solche Wildblumen auf den kommunalen Grünflächen helfen zwar der Artenvielfalt, doch – wie sich laut Bürgermeister Kappenstein in der Gutenbergstraße zeigte – sind nicht alle Bürger vom „Unkraut“ begeistert. © becheikh

KETSCH

UMWELTSCHUTZ GRÜNE KRITISIEREN GEMEINDE WEGEN AUSSTEHENDEM KONZEPT FÜR BIODIVERSITÄT / BÜRGERMEISTER JÜRGEN KAPPENSTEIN WEIST VORWÜRFE ZURÜCK

In der Schwetzinger Zeitung ist dieser Artikel über die Grüne in Ketsch erschienen.

14. August 2020 Autor: Benjamin Jungbluth (beju)

Ketsch. Der etwas sperrige Begriff Biodiversität ist unter Umweltschützern inzwischen fast so verbreitet wie das Thema Klimaschutz – und auch die Ketscher Grünen sehen in ihm eines ihrer wichtigsten Handlungsfelder.

Die natürliche Vielfalt an Lebewesen, wie man den Begriff mit etwas Unschärfe übersetzen kann, ist aus Sicht von Grünen-Sprecher Nikolaus Eberhardt in großer Gefahr, wie er mit dramatischen Worten beschreibt: „Durch den Klimawandel und den Verlust der Artenvielfalt ist alles Leben auf der Erde akut bedroht, da sind sich die Wissenschaftler einig. Es geht bei dem Thema nicht um irgendeine vermeintliche Ideologie der Grünen, sondern um die großen Fragen der Menschheit. Wir alle müssen deshalb schnell handeln“, sagt der studierte Maschinenbauer, der sich seit jeher eng mit der Natur verbunden fühlt, eine Internetseite über die Rheininsel betreibt (wir berichteten) und seit Anfang des Jahres im Vorstand der Ketscher Grünen aktiv ist.

Zusammen mit seinen Parteifreunden hat er in der jüngsten Sitzung des Gemeinderats allen gewählten Vertretern eine Nisthilfe für Wildbienen übergeben. Mit der Aktion wollten die Grünen auf das Thema Artenvielfalt und Insektensterben aufmerksam machen – und ihren Antrag zur Förderung der biologischen Vielfalt in Erinnerung rufen, den sie im vergangenen Oktober im Rat eingebracht hatten.

Darin heißt es, die Enderlegemeinde solle für kommunale Grünflächen Konzepte zum Artenschutz erstellen, also beispielsweise Wildblumen statt gärtnergepflegter Flächen wachsen lassen. „Wir sehen das als Vorbildfunktion für die Bevölkerung und finden, die Gemeinde muss mehr Öffentlichkeitsarbeit für die Artenvielfalt betreiben“, sagt Grünen-Sprecher Nikolaus Eberhardt. Es gehe dabei aber auch um Themen wie Lichtverschmutzung, Pestizide und die Bebauung von Flächen, alles sei miteinander verquickt.

„Nicht mehr viel Zeit“

Aus seiner Sicht besteht für solche „sanften“ Methoden des Gegensteuerns allerdings nicht mehr viel Zeit. „In zehn Jahren wird es nur noch mit Zwangsmaßnahmen gehen: Dann wird die Gemeindeverwaltung die Bürger zwingen müssen, ihre Vorgärten aufzureißen und Lebensräume für Insekten zu schaffen. Uns läuft einfach die Zeit davon, genau wie beim Klimawandel“, mahnt Eberhardt.

Mit dem aus ihrer Sicht langsamen Tempo der Gemeinde sind die Grünen deshalb unzufrieden – wie auch mit der Arbeit des Umweltbeauftragten Dominique Stang, den sie öffentlich kritisieren. „Wir haben keinerlei Austausch mit Herrn Stang, obwohl wir uns beim Thema Umweltschutz enorm einbringen“, beklagt der Grünen-Sprecher Eberhardt.

Diese Vorwürfe weist Bürgermeister Jürgen Kappenstein jedoch vehement zurück. „Unser Umweltbeauftragter hat enorm viel zu tun und bringt sich in seinem Aufgabengebiet stark ein – ihm einfach so öffentlich Untätigkeit vorzuwerfen, ist absurd und ein ganz miserabler Stil. Und das Thema Umweltschutz ist nicht Eigentum der Grünen, sondern wird von allen Ketscher Parteien und auch der Verwaltung ernst genommen. Es kommt aber nicht darauf an, möglichst große Töne zu spucken und nur darüber zu reden, sondern dass Maßnahmen auch zu Ende gedacht und umsetzbar sind“, kontert Bürgermeister Jürgen Kappenstein.

Einfach nur blühende Wiesen zu fordern, reiche nicht – man müsse auch die Bevölkerung mitnehmen. „Wir haben vor einiger Zeit einen Versuch mit einem naturnahen Grünstreifen in der Gutenbergstraße unternommen. In der Folge haben sich Anwohner beschwert, dass da überall Unkraut wachse und die Gemeinde den Bereich nicht pflegen würde“, erläutert Kappenstein in einer Stellungnahme.

Beauftragter für Klimaschutz

Aus Sicht des Bürgermeisters müssen die Bereiche Artenvielfalt und Klimaschutz gebündelt werden. Dafür soll es einen hauptamtlichen Klimaschutzbeauftragten geben, dessen Stelle vom Kreis getragen werde. Dieser solle auch ein Klimaschutzkonzept erstellen, wie es selbst manche größere Stadt in der Region noch nicht habe. „Aber das muss alles Hand und Fuß haben, wir sind da noch am Anfang einer komplexen Planung“, führt Bürgermeister Kappenstein weiter aus.

Zusammen mit der Klimaschutz- und Energie-Beratungsagentur (Kliba) Heidelberg/Rhein-Neckar-Kreis, die seit Langem die Kommunen der Region in Sachen Klima- und Umweltschutz unterstütze und im Rathaus regelmäßig Beratungen für Bürger anbiete, habe sich die Gemeinde für ein umfassendes Konzept entschieden.

„Die Kliba-Experten haben uns geraten, eine eigene, zentrale Stelle einzurichten, um eigene Konzepte zu erstellen und umzusetzen. Das Thema wurde bereits im Gemeinderat besprochen, muss aber wegen seiner Wichtigkeit und Größe noch einmal von den gewählten Vertretern behandelt werden“, so Kappenstein weiter.

Die Grünen sind mit der Vorgehensweise der Gemeindeverwaltung dennoch nicht zufrieden, wie es dort heißt. Aus ihrer Sicht muss das Thema noch schneller angegangen werden. „Bislang haben wir nur freundliche Anträge im Gemeinderat gestellt. Da aber nichts passiert ist, werden wir wohl an Schärfe zulegen müssen“, kündigt Grünen-Sprecher Nikolaus Eberhardt für die Gemeinderatssitzungen der zweiten Jahreshälfte an.© Schwetzinger Zeitung, Freitag, 14.08.2020

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